28-28 im Game der Raiders gegen die LA Chargers. Das Allegiant Stadium kocht vor Emotionen, als Derek Carr und die Silver&Black mit 02:30 Minuten auf der Uhr in den möglicherweise entscheidenden Drive gehen. Zwei schnelle Plays mit einer Slant- und einer Out-Route, zack, Darren Waller holt zwei First Downs und bringt die Raiders knapp in die gegnerische Hälfte. Doch dann wirft Derek Carr eine China-Route tief auf Davante Adams. Es sieht gut aus, Davante setzt zum Sprung an, hält den Ball für eine Sekunde in seinen Händen – doch dann kommt Derwin James, gerade mit einem Top-Tier-Vertrag als bestbezahlter Safety der NFL ausgestattet: Tackle in der Luft, der Ball macht einen großen Bogen und wird intercepted! Die vierte Interception von Derek Carr in diesem Spiel. Moment mal, die vierte INT? Wann zur Hölle wirft Derek vier Interceptions!?!? Ach Moment, wir sind ja bei Madden…

Mensch, regt mich das auf. Unrealistisch ohne Ende. Wäre es eine Ausnahme, wäre es kein Problem. Doch das Geplänkel nach den ersten 45 Minuten Madden 23 erinnert mich stark an meine letzten Partien, die ich in der NFL spielen durfte. In der digitalen NFL zumindest. Als ich mir 2018 den letzten Teil der Madden-Serie kaufte, ernüchterte mich teilweise schon der fehlende Grad an Realismus. Man konnte seinen Gegner an die Wand spielen, je näher es aber Richtung Schlusspfiff ging, desto effektiver waren die künstlichen Intelligenzen. Zwei, drei lange Pässe, perfektes Time Management, Interceptions oder Forced Fumbles nach dem 2-Minute-Warning. Irgendwie gab es immer was, was die KI besser machte. Selbst wenn ich einen Touchdown erzielt hätte, wahrscheinlich hätte Herbert dann noch zwei Hail Marys angebracht und auf 35-35 ausgeglichen. So aber: die Chargers machen zwei Spielzüge und mit ablaufender Uhr den 31-28 Sieg perfekt. Zumindest gab es bei 15 Minuten pro Quarter dieses Mal kein außerirdisches Ergebnis. 45-48 oder 55-58… ich mag es einfach, wenn am Ende des Spiels die Statistiken denen der „echten“ NFL ähneln.

Dennoch stelle ich mit Erstaunen fest: auch fünf Jahre nach meinem letzten Madden-Kauf hat sich EA Sports noch nicht von seinen Kinderkrankheiten getrennt, geschweige denn etwas wirklich Neues gebracht. Skill Based Passing System. Neue Animationen, besseres Gameplay. Viel Werbung wurde gemacht. Am Ende aber mit Dingen, die alle doch nicht so neu sind, die es schonmal (teils in ähnlicher Form) gab und die jetzt als neu verkauft werden. Für die Booster-Pack kaufende Horde an Ultimate Teamlern und Teamlerinnen kein Problem. Sie wird Jahr für Jahr wieder angelockt. Für mich als Football-Nerd steht jedoch fest: nie wieder! Und zur Not nochmal fünf Jahre nicht! Ich werde nach Madden 23 er wieder ein Madden kaufen, wenn ich merke, dass sich wirklich Mühe gegeben wurde und man mit dem Stand der Technik und Zeit geht – und nicht jährlich einen Abklatsch, ja fast nur ein Update der Vorversion veröffentlicht.

Weil die NFL vor einigen Jahren EA Sports die Exklusivrechte für die Produktion einer Football-Reihe für PC, Playstation etc. gegeben hat, sitzen die Entwickler in trockenen Tüchern. Vorher waren einschlägige Neuerungen an der Tagesordnung. Denn andere Entwicklerteams brachten andere Football-Spiele raus: bspw. die NFL 2K-Reihe von Sega. Oder die NFL Gameday-Reihe von 989 Sports. Oder – bei kaum jemandem bekannt, aber immerhin mit 11 veröffentlichten Titeln – Backyard Football von Humongous Entertainment. Da EA Sports nun aber das Monopol besitzt, herrscht auch keine wirkliche Konkurrenz. Selbst Managerspiele wie Pro Strategy Football oder Front Office Football müssen weichen, wenn es um die Lizenzierung von Originalnamen und Logos geht. Der Riese EA beherrscht den Markt wie kein anderer.

70 Features, die in alten Madden-Games noch inkludiert waren, sind mittlerweile rausgenommen worden. Und durch „Neuerungen“ ersetzt, die allesamt nicht so neu daherkommen. Was ist dieses fortgeschrittene Pass-System bitte? Ein paar neue Animationen und fertig, wird der Horde eine Neuerung verkauft. Warum haben Linemen bei ihren Blocks teils solche Zuordnungsprobleme, dass sie zwei Meter übers Feld glitchen wie ein Nussknacker auf einer Modelleisenbahn? Warum wird von hunderten neuen Animationen gesprochen, wenn mein Running Back am Ende doch fast nie einen Stiff Arm in den Sand setzt oder einfach von einer Meute von fünf Defendern ohne Blocks zu Boden gebracht wird? Und warum sehen die Bewegungsabläufe so ungemein besch****** aus? Die Spieler haben keine Dynamik, dazu kommt der schlechte Audioton ihrer Schritte, der mehr an einen Marder beim Kabel-Zerbeissen erinnert, als an NFL-Ingame-Sound. Höhepunkt der schlechten Scherze? Wenn Josh Jacobs so aussieht wie Jonathan Hankins oder im Idealfall wie Chandler Jones!?!? Ich weiß ja, dass RBs durchtrainierte Beine haben, aber sowas? Und selbst wenn O-Liner manchmal etwas fetter sind: es gibt keinen Grund einen Dylan Parham wie ein Schwellmonster aussehen zu lassen. EA hat da einfach ganz schlechte Arbeit gemacht. Alles scheint irgendwie mit Animationen ausgeschmückt zu sein, aber intensive Programmierung sieht anders aus. Kaum Bewegung an der Sideline, das Herausnehmen von Schiedsrichtern bzw. Offiziellen wie der Chain-Crew, die lieblosen Fans, die maximal bei einem gefangenen Hail Mary TD aufschreien. Bis hin zur Nicht-Integration von alten Kadern (ich müsste lügen, aber bei den Maddens vor 20 Jahren konnte man schon die 90er Teams spielen), der künstlichen Aufplusterung von Modi a la Face of the Franchise oder das immerwährende Rennen um irgendwelche Pack-Inhalte für teuer Geld – alles Piepmüll! Und mal eine Frage, die mir schon seit Langem unter den Nägeln brennt: Warum kombiniert man nicht NCAA Football mit Madden oder macht zumindest den Franchise Mode dahingehend interessant, als das man „echte“ Spieler in den College-Kadern hätte!?!? Übertrieben: Statt einem Price Bang hätte ich lieber einen Bryce Young als Draft-Option 2023! Hinzu kommt, dass die hochgepriesenen Änderungen wie Field Sense oder Skill-Based-Passing auch nur für die Konsolen verfügbar sind. Als PC-Spieler zieht man hier wieder den Kürzeren. EA hat diese Neuerungen schlicht und einfach nicht integriert. Im Gegensatz zur Fifa-Serie gibt es auch kein Plattform-übergreifendes Zocken.

Wenn ich also nach fünf Jahren Pause ein Spiel zocke, welches sich technisch so gut wie gar nicht verbessert hat, in dem Altes als Neues verkauft wird und in dem ich das Gefühl bekomme, dass man sich keine Mühe mehr macht auf jahrelange Kritik der Spieler einzugehen, dann kann ich den weiteren Werdegang nicht mehr supporten. So wird Madden 23 zwar von mir auch gespielt werden, aber eben nicht mit vollem Enthusiasmus und mit der Prämisse, auch die nächsten Jahre wieder zu verzichten – bis, ja bis sich endlich wieder was tut und man das Gefühl bekommt, ein wirklich zeitgemäßes Spiel in den Händen zu halten.

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