Die NFL Free Agency hat begonnen und die Teams befinden sich im ersten Wettstreit um neue Vertragsunterzeichnungen und die Besetzung wichtiger Lücken ihrer jeweiligen Roster, bevor es am Wochenende vom 27.-29.April in den NFL Draft 2023 geht. In den kommenden Wochen präsentiere ich euch daher wie im letzten Jahr meine persönlichen Top-10 Listen aller Positionen.

Heute beginnen wir mit der Klasse der Offensive Linemen, wobei ich hier auf Unterscheidungen zwischen einzelnen Positionen bewusst verzichte. Zu groß wäre die Fülle an zu scoutenden Spielern, zu schwammig die Einschätzungen der hinteren Draft-Ränge und Spieler, von denen schlichtweg zu wenig Material gesichtet wurde bzw. zur Verfügung stand.

Bevor es los geht daher noch ein paar Worte zu meinem persönlichen Scouting Prozess und der Tatsache, warum ich überhaupt Top-Rankings erstelle: als „Hobbyscout“ dient die Erstellung solcher Listen tatsächlich der Befriedung meines eigenen jährlichen Verlangens, Ordnung in die Unübersichtlichkeit der Draft-Klassen zu geben. Obwohl mir die Tools und das Wissen für professionelles Scouting fehlen, bleibt die persönliche Note bei der Beobachtung etlicher Prospects dennoch gegeben und wo früher Bleistift und Schreibblock herhalten mussten, gebe ich mir heute noch mehr Mühe, „struktureller“ zu scouten. Sprich: ich bin weggegangen vom Anspruch, alle Spieler sehen zu müssen, weg von Highlight Reels, hin zum tieferen Blick. Der Fokus liegt auf weniger Spielern, die dafür länger geschaut werden und mit mehr Blick auf Details. Ebenso verlagere ich den Blick auf eigene Beobachtungen, ehe ich sie anschließend mit denen von Experten abgleiche. Ein Unterschied zu früheren Jahren, in denen Seiten wie The Draft Network, NFL Buzz, PFN oder PFF tagelang durchstudiert wurden, ehe man sich dann die Beobachtungen anderer „im Film“ bestätigen ließ.

Daher habe ich dieses Jahr bspw. die Future Diamonds- Serie begonnen, bei dem ihr einen tieferen Blick auf die Prospects bekommt, statt der typischen Standardsätze. Die dort präsentierten Spieler habe ich länger (alle mindestens zwei Stunden) und teils mit besserem Material (All-22-Film) beobachtet als den Rest. Und dennoch: neben ihnen musste ein Sammelsurium von zig anderen Spielern abgearbeitet werden, die in der Serie nicht auftauchen oder bisher nur stiefmütterlich behandelt wurden. Allen gemeinsam ist dennoch eine mindestens angemessene Zeit an Beobachtung. Ich bringe hier keine Spieler, die ich nicht kenne und persönlich nicht gesehen habe. Die individuelle Note mag daher gelegentlich ein Grund für drastische Abweichung vom Konsens sein. Eine Übersicht über alle Prospects zu wahren scheint unmöglich, gerade in den hinteren Runden werden Einschätzungen ungenauer und die Liste an „übersehenen“ Spielern größer.

Dennoch gibt es hier und da natürlich Fälle von „My Guys“, die subjektiver nicht sein könnten. Spieler, auf die man während der Saison aufmerksam wird und bei denen man „hängen bleibt“. Spieler, die man mehr hyped als andere und vielleicht auch mal zu harte Urteile gegen Spieler, die man beim Intensivscouting vielleicht besser bewerten würde. Hinzu kommen natürlich starke Unzulänglichkeiten im Professionalisierungsgrad. Mein Football-Wissen basiert im Gegensatz zum professionellen Coach auf Jahren des Selbststudiums, früherer Erfahrung als Spieler (die aber auch schon knapp 20 Jahre her ist), „Fernseh-/Youtube-Scouting“ und dem Nicht-Vorhandensein von Beziehungen zu den Spielern. Diesen letzten Punkt empfinde ich als den größten Unterschied zwischen „Draft Analysten“ und Professionellen. Die Combine ist das beste Beispiel. Während der Fokus der Zuschauer auf Messungen zur Athletik liegt, stellt der professionelle Scout an diesem Wochenende ganz andere Fragen. Die stattfindenden Interviews beweisen: es geht teils um banale Dinge und den „personal fit“ von Spieler und Coaching Staff. Es geht um Fragen zum System und um persönliche Dinge, die dem Gros einfach verwehrt bleiben. Daher stellen aus meiner Sicht schon Prospect Rankings an sich eine Problematik dar: sie übersehen zu viel und berücksichtigen zu wenig. Die historische Draft-Erfahrung lehrt zudem: sie bringen kaum Erkenntnis. Jedes Jahr werden Spieler zwischen Runde 3 und 6 gedrafted, die sich zu Stars oder zumindest Stammspielern entwickeln, während gleichzeitig Spieler aus den ersten Runden versagen – und gelegentlich sogar in ihren Stationen danach nochmals auf performen.

Die Erstellung von Top-Rankings soll daher einzig und allein zwei übergeordneten Zwecken dienen: Erstens, sie soll Licht ins Dunkel bringen, „den Markt ordnen“, Möglichkeiten der Kategorisierung eröffnen und einen jeden mit einer Vorauswahl an Spielern bekannt machen. Und zweitens, soll sie vor allem eines: Spaß machen!

Das finde ich das Schönste am Draft-Prozess und der jährlichen Beschäftigung mit den Prospects: das gegenseitige Hochziehen und Foppen, das Spekulieren über die besten Team Fits, Risers, Fallers, Sleepers et cetera. Das Hypen der „My Guys“ und das Herunterspielen derjenigen, bei denen man vielleicht Unzulänglichkeiten im Spiel erkennt. Der immerwährende Vergleich, wer vor wem gezogen werden soll und warum. Das ist Football! Und letztlich ist der Draft-Prozess auch nur eine Folie für eigene Projektionen, bei denen teils die Professionellsten unter uns weit daneben liegen können. Von daher: nehmt diese Listen nicht zu ernst, diskutiert aber gerne mit und fordert meine Picks heraus! Wen gradet ihr höher, mit welchen meiner Top Picks kommt ihr gar nicht zurecht? Wo übertreibe ich? Wo maßlos? Und wo habe ich dieses Jahr wieder einen guten Riecher?

Treu geblieben bin ich auch meinen Minimal-Anforderungen: es müssen schon mindestens 50 Leute sein, die intensiv geschaut werden und es sollten insgesamt um die 150 sein, die ich zumindest ein bisschen geschaut habe und zu denen ich beim Pick etwas sagen kann. Alles darüber hinaus ist Zufall und Zugabe.

Die rückblickende Analyse meiner letztjährigen Top Guys und Sleeper Picks zeigte immerhin, warum ich damit recht gut fahre: ich konnte im letzten Jahr immerhin einige Juwelen als solche erkennen und die eigene Agenda der My Guys pushen! Neben Sauce Gardner hatte ich durchaus einige gute Takes, die sich nicht auf die vorderen Draft Runden bezogen: Ein Tariq Woolen oder Coby Bryant standen ebenso auf meiner Liste wie ein Christian Watson oder ein Boye Mafe als 1st Round Projection (alle bis auf Watson wurden ironischerweise von Seattle geholt). Und überschätzt habe ich auch einige.

Auch dieses Jahr wird sich daher wieder auf die Suche gemacht. Nach neuen Talenten und zukünftigen Stars. Ein bisschen seinen Senf dazu geben. Im Wetteifer mit anderen Analysten/Experten/Hobbyscouts. Let’s see who owns them all! Viel Spaß euch allen und ich freue mich auf eure Meinungen und Einschätzungen!

Abschließend bevor wir uns die O-Line Klasse anschauen noch eine Info: im Gegensatz zu den Future Diamonds werden die hier gelisteten Spieler lediglich in ihren Grundzügen in wenigen Sätzen beschrieben. Für detailliertere Infos schaut ihr dann doch lieber in ausführliche Scouting Reports, im Folgenden bekommt ihr deren Extrakt und eine Hommage an ihr Profil.

1.Darnell Wright, RT, Tennessee

Mittlerweile mein Lieblings- O-Liner 2023! Wright wirkt wie ein kleinerer Charles Cross auf der anderen Seite. Er kann es mit schnellen Edges aufnehmen, deckt einen großen Raum und überfällt seine Gegner mit genialer Handtechnik. Sein Lateral und Mikro Movement gehört zum Besten, was die Klasse zu bieten hat. Ein sehr guter Pass Protector mit Plug&Play Ability. Vielleicht der größte Steal, wenn er auf Runde 2 fällt. Ich würde ihm Top 10 Ratings geben und sehe keinen Spieler, der sich von verlorenen Reps schneller recovern kann als er!

Grade: 9.2

2. John Michael Schmitz, C, Minnesota

Schmitz ist für mich die sicherste Option und der beste Center im kommenden Draft. Entgegen des Consensus, der ihn vorwiegend in Runde 2 sieht. Wie bei Tyler Linderbaum oder Creed Humphrey weiß man: er wird definitiv eine langfristige Rolle in der NFL spielen! Schmitz ist ein vielseitiger Allrounder, was sein Spiel betrifft. Kompakt, präzise, mit großem Willen und Disziplin wie Härte. Vielleicht der beste Mauler im Running Game unter den diesjährigen Centern und technisch einer der besten O-Liner. Unglaublich: er hat in seinen fünf College-Jahren nur zwei Sacks zugelassen. Beim Senior Bowl war er eine der Überraschungen und konnte in 1v1-Drills auf ganzer Linie gegen die besten D-Liner überzeugen. Wichtig für die Raiders: Schmitz ist ein Power-Footballer mit grandiosem First Step, der bei Initial Contact dominieren kann.

Grade: 9.0

3. Paris Johnson Jr., LT/RT/RG, Ohio State

Paris Johnson war lange meine Nummer 1 und verliert diesen Platz nur, weil er im Gegensatz zu Wright und Schmitz in einer gut bestückten O-Line antrat, die fast auf Pro-Level spielte. Seine Rolle im Team war dennoch eindrucksvoll: Johnson ist ein Captain und spielt auch so. Verantwortungsbewusst mit guter Work Ethic. Er ist zudem ein Versatitlity Guy und überall in der Line einsetzbar. Und gilt zudem als einer der intelligentesten Spieler der Klasse. Sein 5-Star-Rating war daher keineswegs übertrieben, Johnson zeigt in seiner gesamten College-Karriere diejenigen Führungsqualitäten, die es braucht um es in der NFL weit zu bringen.

Grade: 9.0

4. O’Cyrus Torrence, G, Florida

In vier Jahren ließ Torrence bei über 1.400 Pass Blocking Versuchen nur einen einzigen Sack und weniger als fünf QB Hurries zu. Er trug maßgeblichen Anteil an Anthony Richardsons Höhenflug und gilt als erfahrener Recke mit guter Technik. Top Leverage, sein Drive und seine Finishing Fähigkeiten machen ihn zu einem interessanten Prospect. In der Combine lief Torrence, mit über 340 Pfund einer der schwersten Big Boys in diesem Jahr, einen 40-Yd.-Dash von 5.31 Sekunden. Für einen Interior Lineman eine ausbaufähige Leistung, aber angesichts seiner Masse durchaus im soliden Bereich. In einem Power Scheme dürfte er am besten aufgehoben sein. Neben der Makellosigkeit seines Pass Blockings gesellt sich das beste Run-Blocking aller Linemen.

Grade: 8.7

5. Anton Harrison, LT, Oklahoma

Harrison ist in meinen Augen der beste und „reinste“ Left Tackle. Ein Swing Tackle, der ausschließlich auf der Outside spielen wird und der zehntbeste Pass-Blocker aller College Linemen, was Pass-Blocking Efficiency angeht. Die Fluidität seines Spiels begeistert, er zeigt die vielleicht beste Beinarbeit der Klasse und mit das beste Hand Placement. Ebenso konnte er seine Athletik im letzten Jahr verbessern und wirkt nun stärker und balancierter als früher. Harrison ließ am College nur vier Sacks zu, ein klarer Verweis auf sein gutes PB. Die einzigen Sorgen die ich habe sind sein Run-Blocking und die Tatsache, dass er selten in True Pass Sets spielte. Diese sind unglaublich wichtig für die Evaluation von Linemen. Er belegte dort nur Platz 239 aller College Linemen, was die Snap-Anzahl betrifft. Dafür ist er aber bei Power- und Counter-Spielzügen einer der Top-10 Linemen. Harrison ist in jedem Fall ein Riser auf den Boards und wohl der Spieler, bei dem man die größten Sprünge erwarten kann, wenn er gutes Coaching bekommt.

Grade: 8.6

6. Broderick Jones, LT/RT, Georgia

Eine der besten Combine Performances hatte Georgias LT Broderick Jones. Was wir sahen: er ist wohl der beste Athletik-Freak der Klasse. Was wir nicht sahen: sein volles Potenzial. Bei ihm sind es vor allem kleine Dinge, die verbessert werden müssen. Technische Details wie der Initial Contact, Hand Placement und Timing. Ansonsten scheint Jones sehr talentiert zu sein. Einer der besten Blocker im freien Raum mit Mirror Ability, sowie einer krassen Reaktion auf dem Mikrolevel. Er ist schnell (4.97 40-Yd. Dash) und hat ideale Maße für die Position (6-5 bei 311 Pfund). 2022 ließ er keinen einzigen Sack zu. Jones hat meiner Meinung nach das höchste Ceiling der OL-Klasse, sein Status als Riser bestätigt dies. Im ungünstigsten Fall braucht er aber noch ein Lehrjahr, ehe er zu voller Form auflaufen kann.

Grade: 8.6

7. Peter Skoronski, LT, Northwestern

Skoronski ist auf den meisten Boards der Top O-Liner dieser Klasse. Obwohl sein Floor wohl recht hoch ist, gehe ich nicht 100% beim Hype mit. In der Majorität aller Drills überragt Skoronski seine Kollegen zwar, doch seine Maße könnten etwas unvorteilhaft sein, vor allem, wenn er als Tackle eingesetzt wird. Er besitzt den kleinsten Wingspan OL-Draftees, Armlänge, Handgröße, Gewicht und Körpergröße befinden sich im unteren Viertel. Zudem macht sein Three Cone Drill kaum Spaß und viele Scouting Reports beklagen genau dies an seinem Spiel. Er hat manchmal Schwierigkeiten seine Hände an die Defender zu bekommen, insbesondere im 2nd Level. Zudem plagt ihn die Inkonstanz in seinem Spiel. Sollten sich diese Bedenken als unwahr herausstellen, haben wir in Skoronski einen Spieler mit top Fundamentals, hohem Football IQ und Scheme Versatility.

Grade: 8.4

8. Andrew Vorhees, G, USC

Talent-wise hätte ich Vorhees höher gerankt, doch ein Torn ACL versaute ihm seinen Draft-Stock. Bittere Pille für einen der reifsten O-Liner der Klasse. Athletisch gesehen dürfte Vorhees einer der besseren Picks dieses Jahres sein, aber obendrauf kommt sein hoher Football IQ und eine Don’t complain- Mentalität. Ein Arbeitstier und Protector von Caleb Williams. Vorhees könnte ein Steal werden, wenn Teams ihn wegen seinem Kreuzband nicht in den ersten beiden Runden draften.

Grade: 8.4

9. Luke Wypler, C, Ohio State

Wypler macht Spaß! Nicht nur sein Spiel, sondern auch die Side-Storys: an der High School unternahm er erste Schritte als Standup Comedian. Heute ist er nach nur drei Jahren College im NFL Draft gelandet. Und er sagt von sich selbst, Football zu spielen sei keine große Anstrengung. Ich bin gespannt, ob er diese Leichtigkeit in die NFL transferieren kann. Würde er es ansatzweise schaffen, wäre er ein Idealbeispiel für Fast Learning und Unbeschwertheit. Man kann es fast schon annehmen. 2020 spielte er keine 20 Snaps, 2021 bekam er 13 Starts – und ließ keinen Sack zu! 2022 dann die Steigerung und +80.0 Wertungen von PFF sowohl im Run- als auch im Pass-Blocking – ohne zugelassenen Sack. Give me more! Genial, ich bin fast schon hyped! Allein deswegen macht er meine Top-10. Aber auch der Consensus schätzt ihn als überdurchschnittlichen Center ein. Ein Beleg dafür wäre beispielsweise seine gute Leistung gegen Jalen Carter im CFB-Halbfinale.

Grade: 8.3

10. Matthew Bergeron, Syracuse

Bergeron habe ich zwar weniger geschaut als die anderen Linemen in dieser Liste, aber ein paar Details stechen förmlich heraus. Da wäre zum einen seine Zusammenarbeit mit dem ehemaligen 49ers Star-OL Joe Staley, der Bergeron derzeit für den Draft fit macht und ihm die nötigen Feinheiten lehrt. Zum anderen sein Status als vermeintlich bester kanadischer Spieler im Draft. Dies ist zwar selten, aber nicht ungewöhnlich. Das Besondere bei Bergeron aber: weil er eben aus Kanada kommt, wurde er beim Scouting völlig übersehen und fuhr kurzerhand mit ein paar weiteren Kanadiern zum Tryout Camp von Syracuse – und dominierte! Und sicherte sich anschließend bereits im ersten CFB-Jahr seinen Stammplatz. Bergeron ist wahrlich nicht ausgereift. 2022 ließ er fünf Sacks zu! Dennoch ist sein Pass-Blocking auf hohem Level. In meinen Augen ein Risk Pick. Mit dennoch viel Upside.

Grade: 8.2

 

Unzureichend gesichtet: Dawand Jones, Jaelyn Duncan, Cody Mauch

Sleeper: Carter Warren, Jordan McFadden, Nick Saldiveri

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