Future Diamonds: Scouting Berichte zu Tyree Wilson und Myles Murphy

(Archiv-Artikel, 2023)

Nachdem wir uns in der letzten Ausgabe mit einem möglichen Carr-Nachfolgekandidaten beschäftigt haben, wird heute die Edge-Klasse näher beleuchtet. Dort finden wir neben einer tiefen Klasse vor allem zwei Namen im Upper Tier der Quarterback-Jäger: Clemsons Myles Murphy und Texas Techs Tyree Wilson. Was ich von den beiden erwarte und wen die Raiders eher wählen sollten, erfahrt ihr im Folgenden.

Tyree Wilson, Edge/DE, Texas Tech

Tyree Wilson ist ein ehemaliger 3-Star-Recruit, der die letzten drei Jahre bei Texas Tech gespielt hat, nachdem er von Texas A&M transferierte. Dort spielte er letzte Saison ein grandioses Jahr, das er mit 52 Tackles (37 Solo) und sage und schreibe 50 Pressures, davon 32 QB Hurries, krönte. Zehn seiner Hurries konnte er in Hits konvertieren und dabei acht Sacks einfahren.

Schnell sieht man an Wilson, worauf es heutzutage in einer modernen NFL-Defense nicht fehlen darf: Athletik, Frame, Physis. Wilsons Spiel fällt sofort auf, denn man kann ihn auf dem Spielfeld kaum übersehen. Mit 1,98m ist er ein Riese und Idealtypus für einen modernen Edge und sein Wingspan, also seine Armlänge und Spannweite ist kaum zu übersehen. Wilson wird von vielen als 2023er-Version von Travon Walker gesehen und in der Tat: der Vergleich hinkt nicht. Denn im Gegensatz zu Walker, der aus der Top Defense des Landes kam, hatte Wilson bei Texas kaum Hilfe von seiner D-Line. Doch dafür scheint er erstaunlich omnipräsent zu sein. Seine Körperkraft hilft ihm einerseits Blocks zu shedden, auf der anderen Seite kann er Schnelligkeit und Größe in Kraft konvertieren. Er liest gegnerische Plays schnell und profitiert von seinen Change-of-Direction Skills. Diese verdienen jetzt schon ein sattes A-Grade. Sie sind außerordentlich fortgeschritten: er zeigt Geduld im lateralen Movement, wenn das Play von ihm weg geht, achtet aber stets auf Rollouts oder Counters und explodiert dann, wobei er die nötige Schnellkraft aufbringt, um weite Distanzen schnell zu überbrücken. Er lässt sich nicht outmoven und verliert keine Millisekunde bei Fake Plays.

Was mir beim Studieren seines Films auffällt: er zögert und overcommittet nicht. Seine Micro Movements erinnern mich häufig an Maxx Crosby: ein flüssiger Bewegungsablauf ohne Verschwendung von Raum und Zeit. Doch wir sehen schnell, worin Wilson in erster Linie gut ist: im Run Stop und im Generieren von Inside Pressure. Dort setzt sich sein Spiel vom klassischen Edgerusher ab. Er arbeitet vorzüglich an der LOS und nimmt Blocks nicht nur auf, sondern beeinflusst disruptiv die Struktur gegnerischer Läufe. Durch seine Schnelligkeit ist er oftmals kurz nach dem Handoff schon im Backfield. Schön dabei auch immer: er meistert dies sowohl gegen Guards, als auch gegen Tackles und man sieht ihn gleichermaßen in der 5-Technique, als auch in der 7-Technique, gelegentlich sogar in der 3-Technique. Wilson lebt von seiner Athletik, wohingegen seine Technik noch Finetuning braucht. Er ist explosiv und gegen den Lauf ein Edge Setter. Mehrmals sieht man ihn mit einem schnellen Inside Move und anschließendem Bullrush, auch gegen Double Teams, wo er meistens keinen Meter hergibt. Spielt er ausschließlich die Outside an, mangelt es ihm gelegentlich an seiner Handarbeit, falls er dort gut geblockt wird. Man sieht gelegentlich Swim Moves von ihm, sein Repertoire ist overall aber noch ausbaufähig. Selten sieht man Chops oder Swipes. Dinge, die er mit Chandler Jones und Maxx Crosby im Team aber schnell verbessern würde. Zudem hat er nicht den schnellsten Release nach dem Erstkontakt. Aber: wenn er dem Lineman keine Angriffsfläche durch zu hohes Padlevel gibt, ist er brandgefährlich. Denn er hat Qualitäten, die sonst nur Star-Edges haben: einen wahnsinnigen First Step, eine Körperbalance, die ihm einen besseren Angriffspunkt verleiht, einen harten Punch und Füße, die immer weiterlaufen und beim Block nicht zum Stehen kommen.

Zwei seiner größten Qualitäten sind m.M.n. jedoch seine Play Recognition und die disruptive Art seines Spiels. Er zeigt ein natürliches Gefühl beim Lokalisieren seiner Gegner und schafft es, Plays in ihrer Struktur zu beenden. Im Spiel gegen die Texas Longhorns sehen wir ihn mehrmals Verwirrung stiften und das, obwohl er mit Kelvin Banks einen angehenden NFL-Tackle als Gegenspieler hatte. Wilson zerstört Pockets und zwingt den QB zum Escape oder zum schnellen Wurf.

Die entscheidenden Fragen bei ihm werden sein: wieviel kann er in Sachen Speed noch in der NFL zulegen und auf welcher Position wird er vornehmlich eingesetzt werden? Für die Raiders wäre Wilson m.M.n. einen 1st Round Pick wert. Edge ist immer noch eine der wichtigsten Positionen in einer Division gegen Mahomes & Co. und Vegas sollte sich im Draft auf die Defense konzentrieren. Wilson wäre ein Immediate Impact Player, der von Stars lernen kann und im Moment wohl ein deutliches Upgrade zu Malcolm Koonce, Clelin Ferrell und Co. darstellt. Die Raiders brauchen zudem Interior Pass Rush. Mit Wilsons Versatility könnte man genau dort ansetzen und wenn seine Fehler sich auch nur ein wenig minimieren, könnte er bereits in seinem ersten NFL-Jahr ein solider Starter werden.

Miles Murphy, Edge/DE, Clemson

Auf raiderramble.com erschien gestern ein Artikel, in dem Travon Walker als Miles Murphys Floor-Comparison genannt wurde. Nach insgesamt drei Stunden Murphy-Scouting und einem kurzen Blick aufs Walker Highlighttape muss ich konstatieren: Ich finde, hier hat der Autor zu hoch gegriffen, wenngleich sich Parallelen zwischen den beiden Prospects auftun. Im Finishing sei Murphy noch etwas zu inkonstant. Und in der Tat: betrachtet man die statistische Ausbeute von Walker und Murphy, so kann man behaupten: bei beiden sollte man eher auf das Tape achten, als auf die rein zahlenmäßige Ausbeute. Denn die 6.5 Sacks und 11 TFLs, die Murphy 2022 produzierte, sind doch eher im Mittelmaß des CFB zu verorten. Der Zauber liegt bei Murphy dann eben im Detail. Doch von einem neuen Walker zu sprechen finde ich dann doch etwas übertrieben, immerhin hatte der Junge einen fantastischen Start in seine NFL-Karriere.

Die Grundvoraussetzungen bei Murphy stimmen aber. Ein Developmental Walker, sozusagen!? Murphy selbst war ein 5-Star-Recruit, als er sich nach der High School gegen Alabama, Georgia oder Michigan und für Clemson entschied. Die Scouting Reports stimmen größtenteils überein, was seine positiven Charakteristika betrifft. Der eigene Blick auf sein Spiel verdeutlicht es dann: er hat wie Wilson einen schönen Drive, wenn er in den Block geht. Dauerarbeitende Füße, einen guten Burst und starke Arme mit exzellentem Movement. Ebenfalls wichtig: seine Einsetzbarkeit in diversen Schemes. Murphy dürfte wohl der idealtypische 4-3 End sein, der gelegentlich zurück droppt und Aufgaben in der Short Area Coverage übernimmt. Ein sehr interessanter Aspekt, denn er zeigt gleich einen Unterschied zu Tyree Wilson: während Wilson eher Edge Rusher ist, finden wir in Murphy den klassischen End. Man kann ihn tatsächlich mit einem aktuellen Raider vergleichen, der ebenfalls aus Clemson kam und auf der gleichen Position spielt: Clelin Ferrell. Scouts berichten, Murphy sei die komplettere Version Ferrells, in meinen Augen könnte seine Upside tatsächlich höher liegen. Dies hängt aber auch mit der bisher enttäuschenden Karriere Ferrells zusammen, der 2019 mit Pick #4 von den Raiders gewählt wurde und erst in diesem Jahr eine Leistungssteigerung signalisierte.

Was mich beim Schauen seiner Auftritte irgendwie skeptisch macht: ich werde nicht so richtig warm mit ihm. Er wirkt solide auf mich, aber nicht wie jemand, der lange Zeit als Top-10 Talent im College Football galt. Zu wenig Production und im Vergleich zu Wilson zu wenig Disruptivität. Ich sehe mehrere Plays, in denen Murphy zwar seine Hände schön einsetzt, aber sich kurz vor einem möglichen Sack von mobile Quarterbacks austanzen lässt. Ich sehe seinen High Motor, seine langen Arme und schöne Technik, aber es kommt mir irgendwie vor, als würde Murphy zwar seine Aufgaben immer erfüllen, allerdings selten diese unverhofften Big Plays zeigen. Ob er auch ein Spiel alleine gewinnen kann? Zu oft sehe ich ihn mit reinen Kraft-Bewegungen. Selten sehe ich ihn wie Wilson, der mit Micro Movements fast ungeblockt ins Backfield gelangen kann. Murphy hat sich in jedem seiner Jahre in Clemson verbessert, doch ich glaube, er wird ähnlich Isiah Simmons, der auch von Clemson in die NFL kam (2020 mit Pick #8 zu den Cardinals), ein Entwicklungsspieler sein, flexible einsetzbar und etwas dem Gutdünken seiner Coaches überlassen. Wilson scheint für mich mehr Plug&Play, während Murphy wahrscheinlich erst ausloten muss, wo er am besten aufgehoben ist. Als reiner Edge wirkt er in meinen Augen etwas zu steif, zu langsam in seinen Transitionen. Ein Beispiel? Oben schrieb ich von Wilsons Play Recognition und der Fähigkeit bei Counters etc. Geduld zu bewahren und dann zu explodieren. Bei Murphy ist das nicht so ausgeprägt und es tut sich die Frage auf: wie schlägt er sich beim hohen Tempo des NFL Standards? Zumal er mehr als Wilson vom Rest seiner D-Line profitieren konnte.

Insgesamt ist festzuhalten, dass Murphy ein solider All-Around Defensive End mit einer großen Upside ist. Ihm mangelt es nicht an Stärke, Speed-to-Power Konvertierung, High Motor, einer Elite Hand Usage, Scheme Versatility und athletischen Grundvoraussetzungen. Was hingegen zum Problem werden könnte ist seine ausbaufähige Production und die Möglichkeit, dass er den “falschen” Coaches sein Potential nicht entfalten kann, wenn er nicht gemäß seinen Stärken eingesetzt wird.

Ausblick

Die verkorkste erste Saisonhälfte von Chandler Jones und Enttäuschungen bzw. die Nicht-Präsenz unserer Tiefenspieler (Koonce, Bower, Jenkins) legt die Vermutung nahe, dass die Edge-Position im kommenden Jahr modernisiert wird. Weil die Raiders trotz Maxx Crosbys fulminanter Saison weiterhin zu den Schlusslichtern der Liga gehören was Sacks betrifft und zudem die Zukunft des verbesserten Clelin Ferrell fraglich ist, muss Vegas hier unbedingt aufrüsten. Zwar könnte Jenkins wieder von der IR zurückkehren und das Sammelsurium an Tiefenspielern hinter unseren Startern ist groß, doch die Raiders brauchen hier Qualität und am besten Immediate Impact. Ein Spieler mit m.M.n. größerer Upside ist hier Tyree Wilson, der im Gegensatz zu Murphy nicht in ein Win-Now-Setting eingebunden und auf dem die deutlich höhere Defensiv-Last gebürdet war. In der zweiten Runde könnten die Raiders (falls er dann nicht schon weg ist) mit Andre Carter II allerdings einen ähnlich agilen Edge mit großem Wingspan und irrer Athletik holen, weswegen man durchaus fragen darf: lohnt sich Pick #7 für ein Team Need oder draften wir hier wirklich den Best Player on the Board? Meine Ersteinschätzung: Wilson ist nicht mein Top-Pick, aber pendelt sich konstant in meinen Top-5 Wunschspielern ein, die ich im kommenden Jahr bei den Raiders sehen will. Dies kann sich allerdings recht bald schon ändern, im Moment scoute ich Andre Carter und einen weiteren Teamkollegen von Murphy: Linebacker Trent Simpson. Die Scouting Reports zu ihnen könnt ihr in der kommenden Woche lesen! Was ich bisher zu eurer Erleichterung sagen kann: ganz so viel können die Raiders in Runde 1 wohl nicht falsch machen. Erwartet keinen Bust!

About The Author

Share

Similar Posts

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert